„Das Haus soll nicht dafür bestraft werden, dass es mal bewohnt war.“ sagt Staatsrat Wolfgang Golasowski. Und tatsächlich werden mit dem Abbruchgebot von Kaisenhäusern nicht die Gebäude bestraft, denn jenen ist es vollkommen gleichgültig, ob sie erhalten bleiben oder verfallen. Ihre Erbauer beziehungsweise Eigentümer werden bestraft. Es sind die Menschen, die Geld und Arbeitskraft in den Bau, die Erweiterungen und die Modernisierungen der Parzellenwohnhäuser investiert haben. Vordergründig geht es dabei um illegales Bauen ohne Genehmigung in Gebieten ohne Wohnberechtigung, in Kleingartengebieten. Genauer: Es geht um Bauaktivitäten, die vor 50 bis 70 Jahren stattfanden.
Sieht man sich die Sachlage einmal aus der Nähe an, wie ich es in meiner historischen Forschung getan habe, wird deutlich, dass Menschen mit dem Bau eines Wohnhauses auf einer Parzelle eine individuelle Lösung fanden, angesichts einer massiven Wohnungskrise in die Bremen durch Kriegseinwirkung geraten war. Über den langen Zeitraum von einem Vierteljahrhundert konnte die Stadt etwa 12 bis 15 Prozent ihrer Bevölkerung keinen Wohnraum anbieten und duldeten deren Schwarzbauten. Aus diesem Grund wirkt diese Strafe auf die Bauherren und ihre Familien so, als werden sie für eigentlich erwünschte und positiv bewertete Eigenschaften, wie persönliches Engagement, Eigeninitiative und Schaffenskraft, bestraft. Zwei Gesetze zeugen von den Anstrengungen der Stadt, diese Krise, die fast eine Generation andauerte, zu meistern. Es sind die Gesetze zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen von 1956 und 1962. Erst Ende der 1960er Jahre entspannte sich die Lage.
Wieviele Häuser waren es früher eigentlich mal? Bereits 1952 wurden offiziell 12.000 Häuser verteilt über alle Parzellengebiete unserer Stadt gezählt. In ihnen lebten etwa 50.000 Menschen, das ist die Größenordnung einer Kleinstadt. Von einer höheren Dunkelziffer ist auszugehen, da dort bis Anfang der 1960er Jahre gebaut wurde.
Auch wenn diese Parzellenwohnhäuser seit der Nachkriegszeit allen Bremer Bausenatoren ein Dorn im Auge waren, wurden sie doch von ihnen geduldet. Sie fanden sogar einen starken Fürsprecher: Anders als die Bausenatoren schätzte Bürgermeister Wilhelm Kaisen die Parzellenbewohner und ihre Häuser und sah ein Bedürfnis nach erschwinglichen Einfamilienhäusern vorliegen. Folgende Zitate zeigen seine Haltung:
„Im Übrigen war er [der Herr Präsident, Bürgermeister Kaisen] der Ansicht, dass man das Bauen durch Selbsthilfe nicht unterbinden, sondern fördern solle. Dafür liege s.E. ein öffentliches Bedürfnis vor.“, so überliefert es ein Senatsprotokoll vom 8.9.1953.
Bürgermeister Kaisen wies die Senatoren auf die konkrete und faktische Entlastung der Stadt durch die Bautätigkeit in Kleingartengebieten hin: „…den Bewohnern müsse zugute gehalten werden, dass sie sich durch Selbsthilfe vorwärtsgebracht hätten.“, und setzt nach: „Es wäre daher interessant zu erfahren, was an Kosten entstanden wäre, wenn diese Parzellenbewohner in festen Häusern hätten untergebracht werden müssen.“ (Senatssitzung am 23.1.1962). In diesem Sinne äußerte sich auch Senator Willy Dehnkamp: „Er erinnert daran, dass die Kleingärtner nach dem Kriege durch die Errichtung von Behelfsheimen für Wohnzwecke der Stadt wesentliche und schwierige Aufgaben, die sonst von dieser hätten gelöst werden müssen, abgenommen hätten.“ (Senatssitzung am 18.5.1955).
Kaisen fand in seiner hanseatischen Art verschiedentlich anerkennende Worte für die Erbauer von illegal errichteten Wohnhäusern auf den Parzellen, beispielsweise in einer Sitzung mit den Senatoren, wo er sagte: „Es sei nicht der schlechteste Teil der Bevölkerung, der sich durch Selbsthilfe Wohnraum schaffe.“ (Senatssitzung am 8.9.1953)
Zeit seines Amtes als Bürgermeister Bremens setzte sich Wilhelm Kaisen für die Eigenheime auf den Parzellen und ihre Bewohner ein. Er plädierte beispielsweise für die Einrichtung von legalen Gartenheimgebieten mit Einfamilienhäusern auf Erbpachtgrundstücken.
Im Zusammenhang mit der Sanierung der Kleingartengebiete machte Kaisen 1955 die mündliche Zusage, dass die Parzellenbewohner zeitlebens nicht aus ihren Häusern fort müssen, daher die umgangssprachliche Bezeichnung Kaisenhäuser. Diese Zusage wurde später in der Regierung von Hans Koschnik durch den Senator für das Bauwesen, Hans Stefan Seifriz, mit der Dienstanweisung Nr. 186 vom 28.5.1974 schriftlich fixiert.
Hinweisen möchte ich hier noch auf eine bisher unbekannte stille Generalamnestie von 1955, mit der über 1100 unerledigte Räumungsurteile für Parzellenwohnhäuser aufgehoben und anhängige Zwangsgelder niedergeschlagen wurden. Die Begründung für diese Amnestie war eindeutig: Für die Umsetzung der Urteile war anderweitig Wohnraum notwendig, der schlicht nicht vorhanden war.
Feststellen konnte ich auch ein Verhalten des Wohnungsamtes, dass in den 1950er und 60er Jahren im Widerspruch zum Bau- und Wohnverbot auf den Parzellen stand: Parzellenbewohner wurden in der Liste der Wohnberechtigten für den Sozialen Wohnungsbau ganz hinten angestellt, weil sie nach Meinung des zuständigen Amts über ausreichend Wohnraum verfügten.
Das stadtnahe Wohnen in den Häusern im Grünen auf einer Parzelle erscheint uns heute idyllisch. In den ersten beiden Jahrzehnte war es das keineswegs. Im Gegenteil, die Menschen, die hierher zogen, nahmen erhebliche Widrigkeiten für ihren Alltag in Kauf, denn es gab keine befestigten Wege in den Parzellengebieten, keine Straßenbeleuchtung, keine Schulen und keinen Anschluss an den Öffentlichen Nahverkehr. Eigene Räder waren anfangs ein Luxus, von Autos ganz zu schweigen. Ständig war mit Kontrollen durch die Baupolizei zu rechnen, was einem sicheren Wohngefühl entgegen stand. Besonders schwierig gestaltete sich die Grundversorgung mit Trinkwasser. Fast 20 Jahre wurde ihnen der Bau eines Trinkwassernetzes mit Hauswasseranschlüssen in den Parzellengebieten verwehrt. Daher war das benötigte Trinkwasser von vereinzelten, zentral gelegenen Wasserzapfstellen zu holen.
Die Aussagen Kaisens und die genannten Entscheidungen verdeutlichen die schwierige Situation der Stadtväter und -mütter in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie, und mit ihnen die Bremer Bevölkerung, hatten mit dem Wiederaufbau des Hafens sowie der Planung, Neuentwicklung und dem Bau weiter Teile der Stadt ungeheure Aufgaben zu bewältigen.
Mit meiner fundierten Dokumentation „Mehr als ein Dach über dem Kopf – Bremens Kaisenhäuser“ konnte ich 2012 aufzeigen, dass die Eigentümer von Parzellenwohnhäusern die Stadt über einen langen Zeitraum von 25 Jahre mit ihren Schwarzbauten umfangreich entlastet haben, was die damals Verantwortlichen in Politik und Verwaltung wußten und daher duldeten. Darum und aufgrund der Perspektive, die das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2013 für die ausnahmsweise Zulassung von Wohnhäusern in Erholungsgebieten bietet, und angesichts der fatalen Wirkung, die von den Ruinen verlassener Einfamilienhäuser auf die Kleingartengebiete ausgehen, appelliere ich an Senator Joachim Lohse und Staatsrat Wolfgang Golasowski, weder Häuser noch Menschen zu bestrafen, sondern die letzten intakten Häuser mit Wohnrecht auf Dauer zu legalisieren:
Nutzen Sie heute die Chance, das Politikum Kaisenhäuser für die Zukunft gütlich zu regeln. Realisieren Sie eine ausnahmsweise dauerhafte parzellenscharfe Festsetzung des Bestands der letzten intakten Kaisenhäuser entsprechend der historischen Entwicklung mit dem Stand von 1974 in den Kleingartengebieten, die nach dem Bundeskleingartengesetz der Erholung dienen, und verbinden Sie damit ein dauerhaftes Wohnrecht in diesen Wohngebäuden für die Zukunft.